multimediale Webdokumentation in Zusammenarbeit mit Timo Jaworr.
»Ich habe so lange nicht mehr gesungen!«, lacht Valia Njawan in einem heißeren und lampenfiebrigen Ton. Immer wieder räuspert sie sich oder unterbricht etwas beschämt. Sie kann sich nicht mehr so recht an den Text des Liedes erinnern. Zu lange liegt die eigene Kindheit zurück, zu fremd wirkt die eigene Sprache. Valias Schwester, Natascha, hört ihr genau zu und versucht bei den Textpassagen, an die sie sich noch erinnern kann, zu helfen. Das mitsingen fällt ihr jedoch schwer. Sie ist alt, fast blind und das Sprechen fällt ihr schwer. Dennoch beschwingt das Singen beide und sie verfallen immer wieder einem fast schon kindlichen Kichern. Die siebenjähre Lilja, in den zittrigen Armen ihrer Großtante Natascha, beobachtet begeistert das Treiben der Beiden und erfreut sich am Niwchischen, der alten Sprache ihres Volkes. Die beherrschen nämlich nur noch wenige Alte. Sterben sie, stirbt auch ihre Muttersprache.
Die Niwchen sind ein Volk im fernsten Osten Sibiriens, im Norden der Insel Sachalin. Und ihre Kultur verblasst. Sie sind keine Halbnomaden mehr, sondern leben sesshaft. Ihre uralten Feste und Traditionen sind zur Folklore verkommen Und auch wenn jede Familie noch ihre Hunde besitzt, ziehen diese keine Schlitten mehr, wie sie es noch vor einigen Jahrzehnten taten. Mit Geländewagen fahren die Niwchen nun an der Küste entlang, um ihre Fischerboote zu transportieren. Ihre Kultur ist eine der ältesten der Welt, älter als viele europäische Kulturen. Aber es gibt immer weniger, die wie die Familie Njawan, an den alten Lebensweisen festhalten. Rund 5.000 Niwchen gibt es heute noch in Russland. Ein großer Teil von ihnen lebt in der Siedlung Nekrasowka.
Die ökonomischen und ökologischen Umstände machen es ihnen nicht leicht. Dabei ist Sachalin eigentlich eine wahre Goldmine: reich an Fisch, Holz und Öl. Doch die Ureinwohner profitieren vom Reichtum ihrer Heimat nicht. Im Gegenteil: durch die industrielle Nutzung der Insel verlieren die Niwchen Stück für Stück Teile ihres Bodens. Orientierungslos klammern sich die Familien an das, was ihnen bleibt: ihre Geschichte, ihre Vergangenheit, ihre Heimat. Denn obwohl das mythische Fest des Bären nicht mehr stattfindet und sie wegen staatlichen Regulierungen in die Kategorie der Wilderer fallen, wollen sie nach wie vor wie ihre Ahnen leben. Die Jugendlichen sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch bei der Familie zu bleiben und der Notwendigkeit fort zu ziehen. Für Bildung und Geld.
»Ych Mif - Insel der Ahnen« ist eine Geschichte über den Versuch, die eigene Heimat und Kultur zu erhalten. Immer mehr indigene Völker verschwinden, je weiter sich der moderne Mensch im Namen der Wirtschaft, der Globalisierung und der Forschung ausdehnt. Die Niwchen sind davon nicht ausgenommen. Doch anders als Völker wie beispielsweise die Samen fehlt ihnen aufgrund ihrer Abgeschiedenheit die Möglichkeit, sich durch den Tourismus zu erhalten. Hinzu kommt eine Entzweiung im Volk selbst. Während Familien wie die Njawans weiter das Wissen ihrer Ahnen, an Kinder und Enkel übertragen und nach traditionellem Vorbild leben, sammeln und archivieren andere Niwchen bereits ihr materielles Erbe, in Form von traditionellen Kleidern oder Schriften, für ein potentielles Museum...